Anspannung führt zu Verspannung

AutorIN



Maga Martina Molnar
humanware martina.molnar@
humanware.at

Aktuelle Forschungsergebnisse zu Wechselwirkungen zwischen Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychischen Faktoren.

Zusammenfassung

Die hier dargestellten Studien zeigen: Würden psychosoziale Risikofaktoren am Arbeitsplatz vermieden, dann könnten die Rückenschmerz-Fälle um gut 40 % gesenkt werden. Mehr als 75 % der einschlägigen Studien zeigen, dass es insbesondere zwischen Faktoren wie Arbeitszufriedenheit, Monotonie, Arbeitsbeziehungen, Belastungen und Stress-Erleben und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates einen signifikanten Zusammenhang gibt. Bei ca. 35 % aller Personen mit Rückenbeschwerden wird dieses Leiden chronisch. Von diesen unter chronischen Schmerzen leidenden Personen könnten rund 60 % eingespart werden, würden psychologische Begleitmaßnahmen die medizinische Therapie ergänzen. Auch die Untersuchung der Wirksamkeit von Interventionen nach der Behandlung von akuten Rückenbeschwerden zeigt gemessen an der Dauer der Arbeitsunfähigkeit, dass Maßnahmen wie Rückenschulen wenig, dagegen technisch-ergonomische, arbeitsorganisatorische und individuell-psychologische Maßnahmen sehr wirksam sind, um bei den betroffenen Personen wieder Arbeitsfähigkeit herzustellen.

  1. Wie wirkt psychische Anspannung auf muskuläre Verspannung?
  2. Arbeitsbedingte Stressoren erhöhen Muskel-Skelett-Beschwerden
  3. Äußere Bedingungen – innere Bewertungsprozesse
  4. Prävention und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit
  5. Welche Präventionsmaßnahmen sind wie wirksam?
  6. Schlussfolgerungen: Die Rolle der Psyche
  7. Literatur

1. Wie wirkt psychische Anspannung auf muskuläre Verspannung?

„Es stellt mir die Haare auf“ besagt, dass sich aufgrund einer bestimmten Emotion (Angst, Ekel, Ärger,…) die Muskeln zusammenziehen und sich damit auch die Haare aufstellen. „Die Angst sitzt mir im Nacken“ ist ein Wortbild, mit dem Emotionen auf den Schulter-Nacken-Gürtel übertragen werden. „Bei mir krampft sich alles zusammen“ meint, dass sich alle Muskeln aufgrund heftiger negativer Gefühle verspannen. „Es läuft mir die Gänsehaut über den Rücken“ bedeutet, dass irgendein negatives Gefühl die Rückenmuskulatur zusammenzieht.

Was hier sehr bildhaft im Zitatenschatz vieler Menschen zu finden ist, lässt sich auch wissenschaftlich beschreiben. Nämlich, wie es ausgehend von bestimmten psychischen Zuständen vermittelt über Hormone und Nervenleitungen zu physischen Reaktionen kommt, insbesondere auch muskuläre Reaktionen zustande kommen. So zeigt z.B. eine Studie von Hasenbring M. an der Abteilung für Medizinische Psychologie der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen von Laborexperimenten einen

Zusammenhang zwischen Alltagsbelastung, erhöhter Muskelaktivität in der lumbalen Rückenstreckermuskulatur (Lendenbereich) und chronischen Schmerzen.

Kern diesbezüglicher Betrachtungen ist die Stressforschung. Stress ist ein Zustand erhöhter Beanspruchung und damit einhergehender Aktivierung. Richter P. (2005) weist in diesem Zusammenhang auf die Aktivierung des Noradrenalin-Sympathikus-Systems (NNS) und der Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse (HPA) hin. Das bedeutet, alle Systeme des Organismus laufen auf Hochtouren, um auf Stressoren reagieren zu können. Diese Aktivierung wirkt sich über biopsychologische Mechanismen auf unterschiedlicher Ebene auch physisch aus. Beispielsweise wird der Puls beschleunigt, die Atemfrequenz steigt und die Muskelspannung (der Muskeltonus) wird ebenfalls erhöht.

Prof. Dr. M. Hasenbring von der Abteilung für Medizinische Psychologie an der Ruhr-Uni Bochum beschreibt eine Studie, in der zwei Gruppen von PatientInnen mit absolvierten Bandscheibenoperationen miteinander verglichen wurden. Die erste Gruppe hatte drei Jahre nach der Operation chronische Schmerzen entwickelt, die zweite Gruppe war schmerzfrei. In einer entspannten Untersuchungssituation wurden die PatientInnen gebeten, von persönlich belastenden Alltagssituationen zu berichten. Zugleich wurde die muskuläre Aktivität im Rückenbereich mit dem EMG gemessen. Chronische Schmerzpatienten haben dabei einen signifikanten Anstieg der Muskelaktivität, was bei den schmerzfreien Patienten nicht der Fall ist. Psychische Anspannung führt also deutlich zu muskulärer Aktivierung.

Es stellt sich die Frage, ob – in Ahnung an die Überschrift dieses Textes - psychische Anspannung zur dauerhaften physischen Verspannungen führen kann. Nachfolgend sollen einige Antworten darauf gegeben werden. Einige wichtige Aspekte dabei sind:

  • Belastungsdauer: Die Wirkung aller (psychischen und physischen) Belastungen hängt ganz wesentlich von ihrer Dauer ab. Je länger bestimmte Belastungen wirken, also je länger eine Aktivierung bzw. ein Stresszustand vorliegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass gesundheitliche Beschwerden entstehen bzw. chronisch werden. Dies gilt sowohl für physische als auch für psychische Belastungen.
  • Multifaktorielle Wechselwirkungen: In der Regel gibt es nicht nur einen Belastungsfaktor, sondern mehrere, die auf physischer oder psychischer Ebene liegen können. Die Summen- und Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren sind zu berücksichtigen.
  • Individuelle Verarbeitung (Kognitionen, Emotionen): Der Mensch ist ein Lebewesen, welches nicht nur Belastungen, Schmerz oder Beschwerden erleidet, sondern auch darüber nachdenken, diese einordnen, bewerten und damit in unterschiedlicher Weise auseinandersetzen kann. Dieses Reflexionsvermögen der Menschen hat auch Einfluss auf die Ausprägung und die Prävention von gesundheitlichen Beschwerden.

Viele Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens vorübergehende Beschwerden im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates, aber bei einem Teil davon werden die Schmerzen chronisch. Beispielsweise entwickeln 35 % der Betroffenen chronische Rückenschmerzen. Von chronischen Schmerzen wird dann gesprochen, wenn Schmerzen mehr als 3 Monate andauern und nicht angemessen auf medizinische Behandlung ansprechen.

Weil so viele Personen von derartigen Beschwerden betroffen sind, ist die Auseinandersetzung mit folgenden Fragen bedeutsam und häufig in der Forschungsliteratur zu finden:

  • Welche Faktoren begünstigen die Entstehung von Muskel-Skelett-Beschwerden?
  • Welche Maßnahmen beugen Muskel-Skelett-Beschwerden wirksam vor?
  • Welche Interventionen verhindern nach Eintritt einer akuten Beschwerdesituation die Chronifizierung bzw. erhöhen die Wahrscheinlichkeit für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit?

Nachfolgend werden Antworten auf diese hier gestellten Fragen unter Fokussierung auf psychologische Einflussfaktoren gesucht.

2. Arbeitsbedingte Stressoren erhöhen Muskel-Skelett-Beschwerden

Schon im Jahr 2000 veröffentlichten Maintz G. et al. einen Artikel mit dem Titel „ Psychische Arbeitsbelastung und Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen“. Es werden darin Ergebnisse aus einer Studie an 796 Verwaltungsangestellten mit Bildschirmtätigkeit dargestellt. Gezeigt wird darin, dass die Häufigkeit von Schulter-Nacken-Schmerzen oder von Rücken-Kreuz-Schmerzen ganz wesentlich von arbeitsbezogenen Faktoren wie Art der Tätigkeit, soziale Unterstützung, Monotonie, Zeitdruck, Pausen etc. abhängen. Nachfolgend einige Detailergebnisse (Abb. 1):

Organigramm

 

Abb 1: Einfluss von Tätigkeitsform und sozialer Unterstützung auf die Häufigkeit von Schulter-Nacken-Schmerzen

Abb. 1 zeigt, dass in einer Teilstichprobe der Studie mit insgesamt 557 Beschäftigten an Bildschirmgeräten 49 % Schulter- und Nackenschmerzen angaben. Wird genauer untergliedert, welche Tätigkeiten diese Personen haben, so zeigt sich, dass die meisten Beschwerden bei Beschäftigten in der Datenerfassung (vorwiegend Frauen) vorliegen. Von den insgesamt 179 Beschäftigten in der Datenerfassung gaben 61 % Beschwerden an. Die wenigsten Beschwerden werden bei Programmiertätigkeit (vorwiegend Männer) angegeben (27 % von insgesamt 41 Beschäftigten). Allerdings zeigt sich auch, dass das Beschwerdeausmaß bei Datenerfassungstätigkeit davon abhängig ist, wie hoch die soziale Unterstützung erlebt wird (Arbeitsbeziehungen zu Vorgesetzten und in der Kollegenschaft). Bei hoher sozialer Unterstützung sind die Gesundheitsbeschwerden geringer.

Organigramm

Abb 2: Einfluss von Geschlecht, Monotonie, Zeitdruck, Pausen auf die Häufigkeit von Schulter-Nacken-Schmerzen

Diese Auswertung an der Gesamtstichprobe mit 796 Beschäftigten zeigt in Abb. 2 beispielsweise, dass der Faktor Monotonie sowohl bei Männern als auch bei Frauen bedeutsam dazu beiträgt, wie stark die Beschwerdeausprägung ist. Häufige Monotonie bei der Arbeit geht auch mit mehr Schulter-Nackenschmerzen einher. Untergliedert man dann noch bei den Männern, die selten Monotonie erleben nach der Frage, ob sie viel oder wenig Zeitdruck erleben, dann zeigt sich, dass häufiger Zeitdruck auch mit einem höheren Beschwerdeausmaß verbunden ist. Dies gaben von insgesamt 83 männlichen Beschäftigten 31,3 % an. Frauen, die selten Monotonie erleben, zeigen deutlich mehr Gesundheitsbeschwerden, wenn sie nicht ausreichend Pause machen können. Von 55 weiblichen Beschäftigten ohne ausreichende Pausen waren das 78,2 %, im Gegensatz zu insgesamt 247 weiblichen Beschäftigten mit ausreichenden Pausen, von denen nur 55,9 % Beschwerden angaben.

Im Jahre 2001 führte Linton S. J. vom Department of Occupational and Environmental Medicine am Örebro Medical Center in Schweden eine umfangreiche Recherche wissenschaftlicher Literatur durch. Sein Ziel war es, die Ergebnisse aus allen aktuellen qualitativ hochwertigen Forschungsarbeiten, die sich mit der Bedeutung arbeitspsychologischer Faktoren für das Auftreten von Rückenbeschwerden befassten, zusammenzutragen und auszuwerten. Seine Recherche erbrachte zunächst insgesamt 975 Fachartikel in englischer Sprache, die sich mit Rückenbeschwerden und psychosozialen Aspekten befassten. 935 Artikel erfüllten die definierten wissenschaftlichen Anforderungen nicht und wurden ausgeschieden. Die verbliebenen 21 Artikel arbeitete er durch und wertete aus, ob und welche psychosozialen Arbeitsbedingungen in den einzelnen Studien Wirkung auf die Entstehung und Ausprägung von Rückenbeschwerden haben. Die Ergebnisse gliederte er in drei Abstufungen:

  • Starke Evidenz: Mehr als 75 % der Studien bestätigen die Wirkung dieser Variable auf Rückenbeschwerden.
  • Moderate Evidenz: Mehr als 50 % der Studien bestätigen die Wirkung dieser Variable auf Rückenbeschwerden.
  • Unklare Evidenz: Weniger als 50 % der Studien bestätigen die Wirkung dieser Variable auf Rückenbeschwerden.

Auch wenn zwischen den einzelnen Studien Unterschiede hinsichtlich methodischer Details und der einbezogenen Personengruppen bestehen, lohnt die Betrachtung der Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die Ergebnisse aufweisen. Hier eine Zusammenstellung:

Evidenz Einflussvariable auf Rückenbeschwerden Details

Starke Evidenz
> 75 % der Studien

Arbeitszufriedenheit

14 Studien untersuchten diese Variable, 13 zeigten einen signifikanten Einfluss.

Monotonie, Langeweile

6 Studien untersuchten diese Variable, 4 zeigten einen signifikanten Einfluss.

Arbeitsbeziehungen (Vorgesetzte, Kollegenkreis)

6 Studien untersuchten diese Variable, 5 zeigten einen signifikanten Einfluss.

Wahrgenommene Belastungen

3 Studien untersuchten diese Variable und alle zeigten einen signifikanten Einfluss.

Stress-Erleben

3 Studien untersuchten diese Variable und alle zeigten einen signifikanten Einfluss.

Wahrgenommene Arbeitsfähigkeit

3 Studien untersuchten diese Variable und alle zeigten einen signifikanten Einfluss.

Moderate Evidenz

> 50 % der Studien

Kontrolle und Entscheidungsmöglichkeiten

2 Studien untersuchten diese Variable und zeigten einen signifikanten Einfluss.

Arbeitstempo

3 Studien untersuchten diese Variable und 2 zeigten einen signifikanten Einfluss.

Überzeugung, dass die Arbeit gefährlich ist

2 Studien untersuchten diese Variable und beide zeigten einen signifikanten Einfluss.

Emotionale Anstrengung

2 Studien untersuchten diese Variable und beide zeigten einen signifikanten Einfluss.

Unklare Evidenz

< 50 % der Studien

Arbeitsinhalte

Nur 1 Studie untersuchte diese Variable und zeigte einen signifikanten Einfluss.

Tab 1: Starke, moderate und unklare Evidenz von arbeitspsychologischen Risikofaktoren auf Rückenbeschwerden

Von 11 verschiedenen arbeitspsychologischen Risikofaktoren zeigen sechs starke Evidenz (Arbeitszufriedenheit, Monotonie, Arbeitsbeziehungen, Belastungen, Stress, Arbeitsfähigkeit), vier moderate Evidenz (Kontrolle, Arbeitstempo, Gefährlichkeit der Arbeit, emotionale Anstrengung) und eine unklare Evidenz (Arbeitsinhalt) hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Entwicklung von Rückenbeschwerden. Der Autor fasst zusammen und kommt auf Basis seiner Daten zu dem Schluss: „Yet, the results suggest that eliminating psychosocial risk factors at work could reduce the number of cases of back pain by as much as 40 %. “ (S. 63)

In der britischen Studie „The role of work stress and psychological factors in the development of musculoskeletal disorders“ vom Roben Centre for Health Ergonomics (2004) wurden über 3000 Personen aus 20 Organisationen / Firmen aus 11 Industriebereichen verschiedener Tätigkeitsbereiche mit umfangreichen Erhebungsinstrumenten befragt. Die Studie hat untersucht, welche Rolle Stress und andere psychologische Faktoren der Arbeitssituation für die Entwicklung von muskulo-skeletalen Beschwerden spielen. Es wurden hierzu Faktoren der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsorganisation, demografische Daten (personenbezogene Faktoren wie z.B. Alter, Geschlecht, etc.), Faktoren zu Befinden, Gesundheitsbeschwerden – insbesondere Muskel-Skelett-Beschwerden, Verhalten etc. erhoben und statistische Analysen der Daten vorgenommen. Die Ergebnisse der Studie haben wegen der großen Anzahl der befragten Personen sehr hohes Gewicht und die Autoren kommen zu folgenden Hauptergebnissen:

  • Personenfaktoren haben keinen Einfluss auf Stresserleben: Individuelle Faktoren wie z.B. Alter, Geschlecht, Einstellungen zu Stress etc. haben keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten über hohen Arbeitsstress berichten.
  • Hohe physische und psychische Belastungen steigern das Stresserleben: Bei Personen, die sowohl hohe physische Belastungen (ungünstige Arbeitshaltungen) als auch hohe psychische Belastungen (Anstrengung, Konflikte, etc.) erleben, war die Wahrscheinlichkeit für ausgeprägtes Stresserleben am Arbeitsplatz am höchsten.
  • Hoher Arbeitsstress erhöht Gesundheitsprobleme: Personen mit hohem Arbeitsstress haben im Vergleich zu Personen mit niedrigem Arbeitsstress eine 1,5fach erhöhte Wahrscheinlichkeit mehr als 5 Tage wegen Gesundheitsproblemen vom Arbeitsplatz fern zu bleiben. Beschäftigte mit hohem Arbeitsstress berichten 5 x öfter über mentale Belastungen, 4 x öfter über Depression und 4 x öfter über psychosomatische Beschwerden.
  • Hohe physische und psychische Belastungen erhöhen Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems: Wenn zugleich hohe physische und psychische Arbeitsbelastungen vorliegen, ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass die betroffenen Personen auch Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems wahrnehmen. Es berichten die betroffenen Personen insbesondere häufiger über Beschwerden des unteren Rückens, im Hals-Schulter-Bereich, und im Hand-Arm-Bereich, (jedoch nicht im Bereich des oberen Rückens).

Eine schwedische Studie von Larsman et al. (2006) konzentrierte sich auf 145 Frauen über 45 Jahren in Dänemark, Holland, Schweden und der Schweiz, die Computerarbeit verrichten und untersuchte folgende Frage: Gibt es Zusammenhänge zwischen Arbeitsanforderungen, real erlebtem Stress und Muskel-Skelett-Beschwerden im Schulter-Hals-Bereich? Es wurden die erwarteten quantitativen (Zeitdruck, Arbeitsmenge) und qualitativen Arbeitanforderungen, die wahrgenommene Stressausprägung (von entspannt bis unter Druck) sowie die erlebten muskulo-skeletalen Symptome im Hals-Schulter-Bereich erhoben. Die statistische Analyse der Daten zeigt, dass alle Effekte der wahrgenommenen Arbeitsanforderungen auf die Beschwerdesymptome mit Stressmechanismen erklärt werden können:

  1. Je höher das Level des erlebten Stress ist, desto größer ist das Risiko auch Muskel-Skelett-Beschwerden zu entwickeln.
  2. Auch die Zunahme der erlebten Arbeitsanforderungen ist mit einer Zunahme des Risikos verbunden, muskulo-skeletale Beschwerden zu bekommen.

3. Äußere Bedingungen – innere Bewertungsprozesse

Erleben der Arbeitsbedingungen: Nicht nur sichtbare und physikalisch messbare äußere Belastungsfaktoren können sich auf das Muskel-Skelett-System auswirken, sondern auch psychische Faktoren. Hier muss wieder einerseits zwischen den äußeren Arbeitsbedingungen und den inneren Wahrnehmungen bzw. Bewertungen dieser Arbeitsbedingungen (wie z.B. Handlungsspielraum, soziale Unterstützung, Ganzheitlichkeit, Information und Partizipation, etc.) durch die betroffenen Personen unterschieden werden. In einer Reihe von Studien konnte gezeigt werden, dass die Ausprägung des individuellen Stresserlebens und der Gesundheitsbeschwerden häufig folgenden Modellen folgt (Richter P., Kirschner A., 2005) :

  • Job-Demand-Control Model, Karasek & Theorell, 1990: Die Ausprägung von Stresserleben und Gesundheitsbeschwerden wird umso höher, je höher die Arbeitsanforderungen erlebt und je geringer der Tätigkeitsspielraum und die soziale Unterstützung empfunden werden.
  • Effort-Reward-Imbalance Model, Siegrist, 1996: Auch eine Disbalance zwischen Aufwand bzw. Verausgabung und wahrgenommener Belohnung erhöht das Risiko der Beschwerdeausprägung. Hierzu zeigen z.B. Dragano N. et al. (2003) vom Institut für Medizinische Soziologie an der Universität Düsseldorf in einer Studie an 316 Personen eines Verkehrsunternehmens, dass die Chance, Nacken-, Rücken- und Hüftschmerzen zu erleiden, bei Personen, die von so einem Ungleichgewicht betroffen sind, um das 2 bis 3fache erhöht ist.

Zugleich weisen diese gut untersuchten und gesicherten Modellbestätigungen darauf hin, dass der aktiven und konstruktiven Gestaltung von quantitativen und qualitativen Aspekten der Arbeitsanforderungen, von Tätigkeitsspielräumen, von sozialer Unterstützung, von erlebter Belohnung bzw. Anerkennung geleisteter Arbeit sehr hohe präventive Bedeutung zukommt.

Psychische Faktoren entscheiden über Chronifizierung von Schmerz: Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es immer Wechselwirkungen zwischen dem psychischen und physischen System gibt. Hasenbring M. (1999) berichtet über Forschungsarbeiten aus den letzten 15 Jahren, in denen die Frage untersucht wurde, welche Risikofaktoren am ehesten die Chronifizierung von Rückenschmerzen vorhersagbar machen. Die Ergebnisse bei PatientInnen mit Bandscheibenvorfall zeigen, dass eine Vorhersage, ob jemand chronische Beschwerden entwickeln wird oder nicht, in 80 % aller Fälle über psychologische Risikofaktoren möglich ist. Hasebring nennt hier z.B., permanente berufliche und private Alltagsbelastungen, eine depressive Stimmungslage sowie ungünstige individuelle Strategien der Schmerzbewältigung. Das bedeutet also, dass das Beschwerdeausmaß und das Beschwerdeerleben von real vorhandenen körperlichen Probleme (Bandscheibenvorfall) zu einem ganz wesentlichen Teil von psychischen Faktoren abhängig ist.

Die Studienergebnisse zeigen, dass die beiden Faktoren „Berufliche Belastungen“ (vor allem belastende Situationen mit KollegInnen und Vorgesetzten) und „Depressivität“ zu 85 % bereits am Beginn eines akut-schmerzhaften Bandscheibenvorfalls voraussagen können, ob es bei der betreffenden Person zum Verlust der Arbeitsfähigkeit bzw. zu einem Frühpensionierungsantrag kommen wird.

4. Prävention und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit

Will man also einen Beitrag zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und zur Verhinderung von chronischer Schmerzentwicklung leisten, so reichen nur medizinische Maßnahmen dafür nicht aus. Ansatzpunkte liegen sowohl in der präventiven Gestaltung der Arbeitsbedingungen als auch in der Unterstützung der von Gesundheitsbeschwerden bereits betroffenen Personen.

Gestaltung der Arbeitsbedingungen (organisatorisch, technisch): Richter (2006,1) verweist darauf, dass das Arbeitsumfeld als bedeutsames Einflussfeld bei der Prävention nicht vergessen werden darf: „Insbesondere am Beispiel des Lumbalschmerzes, dem Hauptkostentreiber von Krankenstand und Frühinvalidisierung, lässt sich zeigen, dass Schmerzchronifizierung und ungünstige Prognosen zur Wiederaufnahme der Arbeit am besten durch Merkmale schlecht gestalteter Tätigkeiten und deren Organisation rückführbar sind.“ Er weist anhand einer Studie von Mühlpfordt und Richter (2003) an 595 Personen darauf hin, dass die Chance Muskel-Skelett-Beschwerden zu erleiden, bei einer ganzen Reihe von ungünstigen Arbeitsbedingungen stark erhöht ist. Dabei wurden die Beschwerderaten im Muskel-Skelett-System von Personen mit eher günstigen und Personen mit eher ungünstigen Arbeitsbedingungen miteinander verglichen. Die Chance, solche Beschwerden zu erleiden ist erhöht und und zwar beispielsweise

  • um mehr als das Doppelte bei negativem Sozialklima und bei mangelnden Rückmeldungen;
  • um fast das Doppelte, wenn wenig inhaltlicher Spielraum, wenig Information und Mitsprache, geringe Abwechslung vorliegt und bei geringem Haltungswechsel;
  • um das 1,5fache, bei unklaren Entscheidungen, mangelnder Information, starken emotionalen Anforderungen;

Psychologische Unterstützung erkrankter Personen: Wie eine mehrjährige Studie von Hasenbring (1999) zeigt, lässt sich durch entsprechende Maßnahmen (hier Verhaltenstherapie) die Chronifizierungsquote deutlich senken. In der Gruppe mit Verhaltenstherapie hatten 91 % der Patienten langfristig keine oder nur gelegentlich leichte Schmerzen. In der Gruppe ohne Verhaltenstherapie zeigten nur 33 % der PatientInnen eine langfristige Schmerzreduktion. Der Unterschied mit und ohne entsprechender Interventionsmaßnahmen macht also ca. 60 % aus.

5. Welche Präventionsmaßnahmen sind wie wirksam?

Nicht jede Präventionsstrategie hält, was sie verspricht. Welche Maßnahmen tatsächlich in welchem Ausmaß wirksame Interventionen darstellen, wurde durch ein gemischt US-schwedisches Forschungsteam 2006 genauer untersucht. Der Gruppe ging es darum mit einer statistischen Analyse diesbezüglicher Studien festzustellen, in welchem Ausmaß effektive Strategien wirksam sind, um das Risiko von Arbeitsunfähigkeit nach akuten Beschwerden des unteren Rückens zu senken. Dazu wurden einschlägige Forschungsberichte der Jahre 2000 bis 2005 gesammelt.

  • Risikofaktoren für Arbeitsunfähigkeit: Im ersten Schritt ging es darum, aus wissenschaftlichen Studien die gesicherten Risikofaktoren für das Risiko der Arbeitsunfähigkeit nach akuten Rückenbeschwerden herauszuarbeiten. Dabei wurde eine Liste erstellt, in der die Risikofaktoren nach der Häufigkeit ihrer statistischen Signifikanz gerangreiht wurden. Insgesamt wurden 23 Risikofaktoren einerseits der Arbeitsbedingungen (z.B. Arbeitsgeschwindigkeit, Arbeitsschwere, soziale Unterstützung, Kontrolle, Arbeitszufriedenheit, etc.) und andererseits individuelle Einstellungen (Schmerzwahrnehmung, Erwartungen, allgemeines Wohlbefinden, Stresserleben, depressive Stimmung, etc.) gefunden. Zur Erfassung der Variable „Arbeitsunfähigkeit“ wurden sowohl die Dauer der Absenz als auch die Rückkehr an den Arbeitsplatz berücksichtigt.
  • Wirksame Gegenmaßnahmen: Im zweiten Schritt wurden wirksame Arbeitsrückkehr-Maßnahmen zusammengetragen, die sich auf klinische, aber auch auf arbeitsplatzbezogene Interventionen bezogen. Das Spektrum der in 17 analysierten Fachartikeln beschriebenen Projektmaßnahmen wurde in drei Gruppen gegliedert: a) persönliche Maßnahmen (sowohl medizinisch-therapeutische als auch kognitions-psychologische Maßnahmen zur Wahrnehmung der und zum Umgang mit den Beschwerden), b) technische bzw. ergonomische Maßnahmen und c) organisatorische Maßnahmen (z.B. Kommunikation, Organisation im Unternehmen etc.).
  • Ergebnisse: Welche Maßnahmen senken das Risiko der Arbeitsfähigkeit: Die Daten der Risikofaktoren und der Interventionsmaßnahmen wurden miteinander korreliert, um herauszufinden, welche Maßnahmen bei welchen Risikofaktoren besonders wirksam sind (die Dauer der Arbeitsunfähigkeit verringern), also signifikante Werte liefern. Die statistische Analyse zeigte, dass technische und organisatorische Maßnahmen am Arbeitsplatz sowie auch vermehrte Bewegung und kognitive Veränderungen im Umgang mit den Beschwerden stark wirksame Faktoren sind, um das Absenz-Risiko zu senken. Als statisch wenig wirksam hingegen stellten sich physikalische Übungen, Rückenschulen und medizinische Trainings heraus.

6. Schlussfolgerungen: Die Rolle der Psyche

Die hier gesammelten Forschungsergebnisse wollen keinesfalls sämtliche Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems nur mit psychologischen Faktoren erklären. Es sind immer drei Dimensionen, die letztlich die Entstehung, Entwicklung und Wahrnehmung von solchen Beschwerden erklären und beeinflussen:

  • Physikalische Merkmale der Arbeit: Ungünstige Körperhaltungen und Bewegungsabläufe (Zwangshaltungen, statische Haltearbeit, Verdrehungen, Hebe- und Tragevorgänge, Vibrationen, ….), hohe Arbeitsfrequenz, etc.
  • Psychosoziale Merkmale der Arbeit: Das sind beispielsweise Aspekte wie Arbeitsintensität, Zeitdruck, Gleichförmigkeit, geringe Aufgabenvielfalt, geringe Tätigkeitsspielräume, fehlende soziale Unterstützung, etc.
  1. Persönlichkeitsmerkmale bzw. individuelle Kognitionen: depressive Stimmungslage, Ängste, externale Kontrollüberzeugungen, pessimstische Attribuierung, etc.

Die einschlägige Forschungsliteratur lässt den Schluss zu, dass bisher fast ausschließlich physikalische Merkmale der Arbeit bezüglich ihres Wertes für die Entstehung und Prävention von Beschwerden Muskel-Skelett-Systems berücksichtigt wurden. Diese „Ausschließlichkeit“ entspricht nicht den Forschungsergebnissen, die den psychosozialen Aspekte der Arbeitsbedingungen einen sehr hohen Einfluss bei der Entstehung und Prävention von derartigen Beschwerden einräumt. Auch Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Kognitionen und Emotionen haben Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewältigung von Gesundheitsbeschwerden.

Auch auf der Ebene der Präventions- und Interventionsmaßnahmen entspricht die Häufigkeit der meist gewählten Maßnahmen oft nicht ihrer empirisch bestätigten Wirksamkeit. Auch hier zeigen Forschungsarbeiten, dass vermutlich zu oft ausschließlich am Symptom (z.B. Rückenschule) gearbeitet und zu wenig in wirksamen Bereichen wie z.B. bei technisch-ergonomischen, arbeitsorganisatorischen Maßnahmen und am individuellen Krankheitsumgang angesetzt wird.

7. Literatur

Für die Hilfe bei Literaturrecherche und –aufbereitung danke ich meiner Praktikantin, Frau Sally Pampalk. Für Textdurchsicht und -korrektur danke ich meiner Praktikantin, Frau Nadine Nemeskal.

Dragano, N. et al. (2003): Psychosoziale Arbeitsbelastungen und muskulo-skeletale Beschwerden: Bedeutung für die Prävention. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften 11, 196 - 207.

Devereux, J. et al. (2004): The role of work stress and psychological factors in the development of musculoskeletal disorders. Robens Centre for Health Ergonomics, University of Surrey, Guildford.

Hasenbring, M. (1999): Wenn die Seele auf die Bandscheiben drückt. In: Medizin, 1, 43 – 48.

Richter, P. und Kirschner, A. (2005): Psychosoziale Arbeitsfaktoren bei der Diagnostik von Rückenschmerzen. IN: 12. Erfurter Tage – Symposium zur Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und Erkrankungen der BHN, 2.-3. Dezember 2005.

Hasenbring, M. (1999): Wenn die Seele auf die Bandscheiben drückt. In: Medizin, 1, 43 – 48.

Hasebring, M. (2001): Weniger Stress, weniger Rückenschmerzen. In: MEDrubin, Ruhr Universität Bochum, 42 – 46.

Maintz, G. et al. (2000): Psychische Arbeitsbelastung und Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen. In: BAUA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin online.

Werden psychosoziale Risikofaktoren am Arbeitsplatz vermieden, dann könnten die Rückenschmerz-Fälle um gut 40 % gesenkt werden.

Devereux, J. et al. (2004): The role of work stress and psychological factors in the development of musculoskeletal disorders. Robens Centre for Health Ergonomics, University of Surrey, Guildford.

Larsman, P. et al. (2006): Perceived work demands, felt stress, and musculoskeletal neck/shoulder symptoms among elderly female computer users. In: European Journal of Applied Physiology 96, 127 – 135.

Richter, P. und Kirschner A. (2005): Psychosoziale Arbeitsfaktoren bei der Diagnostik von Rückenschmerzen. In: 12. Erfurter Tage – Symposium zur Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und Erkrankungen der BGN, 2. – 3. Dezember 2005.

Dragano, N. et al. (2003): Psychosoziale Arbeitsbelastungen und muskulo-skeletale Beschwerden: Bedeutung für die Prävention. Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften 11, 196 - 207.

Richter, P. (2006): Psychische Fehlbelastungen als Ursache von Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. In: Psychische Fehlbelastungen am Arbeitsplatz. Auswirkungen, Vermeidungsstrategien, Erfahrungsberichte. Fachveranstaltung der sächsischen Gewerbeaufsicht. Dresden, 23.5.2006.

Shaw, W. S., Linton, S. J., Pransky, G. (2006): Reducing Sickness Absence from Work due to Low Back Pain: How Well do Intervention Strategies Match Modifiable Risk Faktors? In: Journal of Occupational Rehabilitation. Springer Science+Business Media, 2006. An der Studie beteiligt waren in den USA das Liberty Mutual Research Institute for Safety, Center for Disability Research und das Department of Family Medicine & Community Health, University of Massachusetts Medical School sowie in Schweden das Department of Occupational and Environmental Medicine an der Örebro University.

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