Gender Mainstreaming und Muskel-Skelett-Erkrankungen
Drin Renate Novak
BMWA, Sektion Arbeitsrecht und Arbeitsinspektion Legisitik und Rechtsangelegenheiten
post@iii3.bmwa.gv.at
„Pack’s leichter an“ gilt für jede Form der Handhabung von Lasten - egal ob Heben und Tragen, Schieben oder Ziehen von Gegenständen oder auch von Personen: Arbeitnehmer/innen, die Lasten manipulieren, in belastenden Körperhaltungen Tätigkeiten verrichten oder repetitive Hand- und Armbewegungen durchführen, sind einer breiten Palette physischer Beanspruchungen ausgesetzt, die zu arbeitsbedingten Gesundheitsschäden führen können, wenn eine Fehlbeanspruchung nicht rechtzeitig vermieden wird:
- Mit 34,5 % in den EU-25 ist der Anteil der Arbeitnehmer/innen, die schwere Lasten tragen oder bewegen müssen, trotz rückläufiger Trends immer noch sehr hoch (in den neuen EU-MS sogar 38 %),
- 46 % nehmen schmerzhafte oder ermüdende Haltungen ein,
- 62 % der Beschäftigten – also fast 2/3 - der EU-Arbeitnehmer/innen führen zu mindestens einem Viertel ihrer Arbeitszeit gleichförmig wiederholte Hand- und Armbewegungen durch und
- ¼ arbeitet mit Werkzeugen, die Vibrationen verursachen.
Arbeitsbedingte Erkrankungen des Muskel-Skelett-Apparats (MSD) im Bereich des Nackens und der oberen Gliedmaßen (work-related neck and upper limb disorders – WRULD, repetitive strain injuries – RSI) als Folge dieser Belastungen betreffen Männer und Frauen in unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen. In den meisten Fällen handelt es sich um kumulative Schädigungen als Folge lang anhaltender und wiederholter Belastungen von hoher oder auch geringerer Intensität.
- Unterschiedliche Verteilung von Männern und Frauen in den Branchen – häufigere Expositionen gegenüber den jeweiligen Risken
- Gefährdungspotenziale und Gesundheitsbeschwerden des Muskel- und Skelettsystems – Männer, Frauen
- Ergonomisches Industriedesign - gendergerechte Gestaltung von Arbeitsmitteln
- Zusammenwirken von Risken - multifaktorielle Belastungen
- Neue Risken am Arbeitsplatz – Wechselwirkungen mit z.B. psychosozialen Belastungen
- Individuelle persönliche Faktoren - u.a. Geschlecht
- Berücksichtigung des Genderaspekts bei der Risikoanalyse von MSD
- Quellen
Unterschiedliche Verteilung von Männern und Frauen in den Branchen – häufigere Expositionen gegenüber den jeweiligen Risken
Entsprechend der immer noch bestehenden Segregation des Arbeitsmarktes verrichten Männer und Frauen branchenbedingt nach wie vor häufig unterschiedliche Tätigkeiten. Selbst wenn sie mit derselben Tätigkeitsbeschreibung in einem Betriebsbereich eingesetzt werden, bedeutet das oft nicht dieselben Arbeiten. Je nach ihren Tätigkeiten sind Männer und für Frauen häufiger unterschiedlichen Sicherheits- und Gesundheitsrisiken ausgesetzt - kurzfristig oder ein Arbeitsleben lang. Den Muskel-Skelettapparat belastende Arbeitsvorgänge werden in fast allen Branchen durchgeführt:
- Als besonders gefährdete Berufsgruppen gelten: Landwirtschaft, Gesundheits- und Sozialwesen, Bauberufe, Bergbau- und Steinbruchbereiche, Reinigungsgewerbe, Wäschereien, Transportwesen, Metallbearbeitung, Mechaniker/innen, Bauberufe, Handel und Dienstleistungen, Hotel und Gastronomie, Maschinenbedienung und Montagearbeiten.
- Repetitive Hand- und Armbewegungen werden vorwiegend durchgeführt in der Lebensmittelproduktion, Geflügel- und Fischbearbeitung, Textil- und Bekleidungsindustrie, Keramikindustrie, in der „leichten“ Produktion – z.B. Montage von Elektronikbauteilen, in Frisörsalons, bei Reinigung, Kassiertätigkeiten im Supermarkt, Textilarbeiten, Näharbeiten oder PC- und anderen Bürotätigkeiten .
- Tätigkeiten in ermüdender oder beschwerlicher Arbeitshaltung, die mit langem Sitzen als Zusatzbelastung verbunden sind, werden tendenziell häufiger von Frauen durchgeführt.
- Exposition gegenüber Ganzkörpervibrationen tritt häufiger in männerdominierten Berufsfeldern auf, verbunden mit langem Sitzen beim Lenken von LKWs und Bussen. Sonst verrichten Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit weniger häufig Arbeiten im Sitzen.
Standen mit manueller Lastenhandhabung ursprünglich männerdominierte Branchen (z.B. Bauarbeiten, Transport) im Mittelpunkt, richten neuere Untersuchungen zu MSE die Aufmerksamkeit auf alle relevanten Branchen mit einem systematischen Blick auf Arbeitsbedingungen und das Arbeitsumfeld:
- Mit dem Wegfall von Tätigkeiten unter hoher physischer Beanspruchung durch zunehmende Automatisierung, technologischen Wandel und durch stärkere Berücksichtigung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse (vor allem der Ergonomie) konnten historische gesetzliche Beschäftigungsbeschränkungen und –verbote für Frauen aufgehoben, zumindest aber gelockert und so der Zugang zur Beschäftigung auch für Frauen und Jugendliche in neue Beschäftigungsfelder ermöglicht werden (Sonderbestimmungen für Frauen und Jugendliche )
- Gleichzeitig nehmen neue Risken zu bzw. werden nunmehr als solche erkannt (z.B. Stress, Mobbing, Gewalt am Arbeitsplatz), wobei kumulative Risken Belastungen wechselseitig verstärken können.
Der Wandel der Arbeitswelt bedingt Verschiebungen der dominierenden Branchen - die Dienstleistungsbranche mit hoher Frauenerwerbsquote gewinnt in Europa weiter an Bedeutung, besonders der IT-Bereich nimmt zu („Informationsgesellschaft“): Neben Veränderungen der Beschäftigungsbedingungen und neuen Risken am Arbeitsplatz steigt auch die Arbeitsintensität. Der Anteil der Arbeitnehmer/innen mit mindestens einem Viertel der Arbeitszeit am PC ist von 31% (1991) auf 47% (2005) gestiegen. 50 % der Arbeitnehmer/innen verrichten Bildschirmarbeit, jede/r 7. verwendet einen Laptop (hauptsächlich oder ausschließlich), 9 % verrichten Telearbeit. Mehr Frauen als Männer nutzen beruflich Internet und E-Mail, so die Ergebnisse der 4. Erhebung der Arbeitsbedingungen in Europa durch die Dublin-Stiftung.
Die daraus resultierenden Gesundheitsprobleme (Augenprobleme, WRULD, Rückenschmerzen, psychische Belastungen) werden dabei in einigen Ländern wie auch in Österreich nicht als Berufskrankheit anerkannt. Da sie weniger sichtbar sind als „klassische Gefahren“ erkennen z.B. auch nur 44 % der Arbeitgeber/innen Gesundheitsprobleme als Folge von Bildschirmarbeit. In Ländern, in denen WRULD, RSI als Berufskrankheit anerkannt ist, liegt der Anteil bereits bei über 45 % aller Berufskrankheiten. Sie bilden damit die am weitesten verbreitete Form der Berufskrankheit in Europa.
Gefährdungspotenziale und Gesundheitsbeschwerden des Muskel- und Skelettsystems – Männer, Frauen
Die zunehmenden Beschwerden des Muskel- und Skelettsystems sind vielfach nicht Ausdruck eines Alterungsprozesses, sondern Ergebnis einer mehrjährigen beruflichen Fehlbeanspruchung:
- Fast 24 % der EU-Arbeitnehmer/innen geben Rückenschmerzen an,
- 22 % Muskelschmerzen (neue EU-Mitgliedstaaten: 39 % bzw. 36 %).
- Akute Folgen falscher Lastenhandhabung sind unfallbedingte Brüche, Muskeleinrisse,
- längerfristig treten auch bei geringerer Belastung und ungünstigen Ausführungsbedingungen Schädigungen des Bewegungs- und Stützapparats, der Muskeln und Bänder des Rückens, der Arme und Hände auf ( RSI, WRULD ).
Trotz rückläufiger Tendenz gaben 2005 immer noch 35 % der befragten Arbeitnehmer/innen an, dass die Arbeit ihre Gesundheit beeinträchtigt (neben Rücken- und Muskelschmerzen: Verletzungen, Stress, Angstzustände, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Irritationen, Hörbeschwerden, Atembeschwerden).
Aktuelle Studien nehmen dabei zunehmend auf Fragen der geschlechtergerechten Arbeitsbedingungen und unterschiedliche Belastungen für Frauen und Männer Bedacht. In Zusammenhang mit MSD wurden bereits in den 90er-Jahren Ländervergleiche erhoben, die zum Teil unterschiedliche Prävalenz von Gesundheitsbeschwerden bei Männern und Frauen zeigen, z.B. für Dänemark 1997:
- neck musculoskeletal problems: 29 % of men, 46 % of women
- shoulders musculoskeletal problems: 26 % of men, 44 % of women
- hands musculoskeletal problems: 14 % of men, 20 % of women.
Für Schweden wurden Vergleichzahlen zu diesen Gesundheitsproblemen 1997 mit ca. 20 % der Männer und 33 % der Frauen berichtet.
Vergleiche zwischen den durchgeführten Arbeitstätigkeiten und Geschlecht belegen aber einen stärkeren Konnex mit Risikofaktoren des Arbeitsplatzes: Ein signifikanter Anteil der Muskel-Skelett-Erkrankungen wird auf arbeitsbedingte ergonomische Risikofaktoren zurückgeführt, die wiederum Männer und vor allem Frauen je nach ihrem Tätigkeitsbereich unterschiedlich betreffen können: Es gibt Hinweise, dass Arbeitnehmerinnen wegen der häufiger durchgeführten repetitiven Tätigkeiten wie „leichten“ Montagearbeiten am Fließband oder Dateneingabetätigkeiten, bei denen die Frauen wenig Einfluss auf die Arbeitsweise nehmen können, auch einem höheren Risiko für arbeitsbedingte Erkrankungen der oberen Gliedmaßen ausgesetzt sind ( WRULD, RSI-Beschwerden z.B. Sekretär/innen und Stenotypist/innen – 38%, Schneider/innen 47 % ), andere Untersuchungen wiederum belegen keine signifikanten Unterschiede. Die Bedeutung von Genderdifferenzen lag jedoch weitgehend außerhalb der Kernbereiche bisheriger Untersuchungen.
Die letzte, Ende 2005 von der Dublin-Stiftung durchgeführte 4. Erhebung der Arbeitsbedingungen brachte nach Männern und Frauen differenziert folgende Ergebnisse:
- Die größten physischen Gefährdungspotenziale für Männer sind Vibrationen, Lärm und Atmen in belasteter Umgebung ( Rauch und Dämpfe). Frauen sind körperlichen Risikofaktoren - entsprechend der weiterhin bestehenden Segregation des Arbeitsmarktes in einzelnen Branchen – weniger ausgesetzt als männliche Beschäftigte.
- Die größten physischen Gefährdungspotenziale für Frauen sind der Umgang mit infektiösen Materialien und das Heben und Bewegen von Personen.
- Gleichermaßen betroffen sind Frauen und Männer von Arbeiten mit repetitiven Hand- und Armbewegungen und schmerzhaften oder ermüdenden Haltungen, die als eher geschlechtsneutrale Gefährdungen gelten.
Ergonomisches Industriedesign - gendergerechte Gestaltung von Arbeitsmitteln
Nicht allein das Gewicht der Last und die mit der Manipulation verbundene Beanspruchung des Muskel- und Skelettapparats sind maßgebend, es wirken weitere Faktoren auf den Muskel-Skelett-Apparat der Arbeitnehmer/innen - wie Art und Häufigkeit des Arbeitsvorgangs, Sperrigkeit, Fragilität der Last, Lastposition (Körperferne/-nähe) und andere Ausführungsbedingungen (im Sitzen, unter Drehbewegungen, geringe Stabilität, verzerrte Haltung). Arbeitswissenschaftliche Methoden zum „richtigen“ Heben und Tragen berücksichtigen anthropometrische Unterschiede von Männern und Frauen (z.B. Körpergröße, Schulterbreite, Körperkraft) z.B. in der Leitmerkmalmethode , welche geschlechtsspezifische Grenzen „wirksamer“ Lasten für Männer und für Frauen unterscheidet, gleichzeitig Hebezeuge, Vakuumhebehilfen und andere Hilfsmittel zur Lastenmanipulation verringern zusätzlich die physischen Belastungen.
Gleichzeitig sind aber viele Arbeitsplätze, Werkzeuge und sonstige Arbeitsmittel aufgrund der anthropometrischen Daten von Männern gestaltet und zuwenig an kleineren Personen oder Menschen mit weniger langen Armen und kleineren Händen ausgerichtet. Beispiel PC-Arbeitsplatz: Tastaturgröße, Trackingball und Maus können Arbeitnehmer/innen mit schmäleren Schultern zu einer Streckbewegung und angestrengten Armhaltung zwingen.
Frauen führen häufig mehr die Hände intensiv belastende Tätigkeiten durch, dabei sind die Werkzeuge und sonstigen Arbeitsmittel oft nicht passend dimensioniert. Weibliche Beschäftigte können daher in Arbeitssystemen benachteiligt sein, in denen kein Bedacht auf solche Differenzen genommen wird.
Ein wichtiger Faktor für das Verständnis von geschlechtsspezifischen Unterschieden sind nicht so sehr die anthropometrischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen an sich, sondern die fehlende Bedachtnahme darauf: Jene Menschen, die dem Normmaß „männlicher Durchschnittsarbeitnehmer“ nicht entsprechen (kleinere oder weniger kräftige Männer, die meisten Frauen, Jugendliche) sind bei der Arbeit zusätzlichen biomechanischen ergonomischen Belastungen ausgesetzt, wenn Arbeitshöhen nicht passen oder Werkzeuge, Arbeitsmittel und persönliche Schutzausrüstungen falsch dimensioniert sind. Derartige Risken können vermieden werden, wie Beispiele im Industriedesign zeigen: So konnten durch ergonomisch gestaltete Arbeitsmittel z.B. Belastungen beim Befüllen und Tranchieren in der schwedischen Fischindustrie deutlich verringert werden. Ein Beispiel aus der Praxis der österreichischen Arbeitsinspektion im Lebensmittelhandel: Tätigkeiten von Frauen in Bedienungstheken, die mit häufigem Strecken und dem Heben von Fleisch- und Wurstwaren verbunden sind, konnten durch ergonomische und an den Arbeitsvorgängen ausgerichtete längere Greifzangen und Gabeln wesentlich erleichtert werden.
Bei größerer Auswahl ergonomisch gestalteter Werkzeuge, verstellbaren Arbeitsmitteln oder Anpassen der Arbeitshöhen an die physischen Gegebenheiten der Arbeitnehmer/innen könnten nicht nur Frauen profitieren, sondern auch jene Männer, die nicht den Normmaßen des „männlichen Durchschnittsarbeitnehmers“ entsprechen.
Zusammenwirken von Risken - multifaktorielle Belastungen
Verschiedene Risikogruppen wirken bei Beanspruchungen des Muskel-Skelett-Apparats zusammen - physische, biomechanische, organisatorische, psychosoziale, individuelle und persönliche Faktoren. Geschlecht dabei als Risikofaktor zu sehen, hilft nicht weiter, komplexere Arbeitsvorgänge und kumulative Risken zu verstehen und zu vermeiden: Kumulative Belastungen müssen bei der Gefahrenanalyse in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden, um Auswirkungen auf den Muskel-/Skelettapparat verlässlich beurteilen und wirksame Präventionsmaßnahmen für alle Arbeitnehmer/innen treffen zu können.
Dass Kassierer/innen im Supermarkt täglich in Summe hohe Lasten bewegen, dabei in ungünstiger Sitz- und Drehposition arbeiten und häufig mit stressbelasteter Arbeitsumgebung konfrontiert sind, gilt heute als relevante Arbeitsbelastung. Das trifft auch für das Gesundheitswesen und den Sozialbereich zu, wo verschiedenartigste, oft schwierig durchzuführende Hebe- und andere Manipulationsvorgänge im Kontakt mit meist bewegungseingeschränkten Menschen notwendig sind, und z.B. Umgang mit fallweisen Widerständen zusätzliche Kompetenzen erfordert, die über das Wissen um „richtiges“ Heben und Tragen hinausgehen. Häufig sind Frauen aufgrund ihrer Arbeitsbereiche mit derartigen zusätzlichen Belastungen konfrontiert.
Im Zusammenhang mit Heben und Tragen, beschwerlichen Arbeitshaltungen und Tätigkeiten unter langem Stehen oder Sitzen sind aber nicht nur wechselnde, schwierige Licht- und Bodenverhältnisse, Hitze/Kälte, Exposition gegenüber Lärm oder Vibrationen oder unzureichende Arbeits- und Sicherheitsschuhe relevant, sondern z.B. auch arbeitsorganisatorische und psychosoziale Faktoren: Stress, Arbeitsunzufriedenheit, fehlender sozialer Rückhalt, hohes Arbeitstempo, geringe Kontrolle über die Arbeit, monotone wiederholte Tätigkeiten, Sprachschwierigkeiten, Umgang mit schwierigen Personen, Belästigungen und fallweise auch Gewalt am Arbeitsplatz können eine Rolle spielen bei Muskel- und Skeletterkrankungen. Zusatzfaktoren sind andere berufliche oder außerberufliche Belastungen, Arbeitszeitausmaß bzw. zeitliche Verteilung und Einhaltung von Arbeitspausen.
Das Zusammenwirken verschiedener Risken, die für sich alleine keine oder nur geringere Gefahren mit sich bringen, wird oft auch aufgrund von tradierten Rollenstereotypen unterschätzt oder gar nicht als Risikofaktor erkannt: Geschlechtsrollenstereotypen oder Eigenschaftszuschreibungen wie „starke Männer“, „sozial kompetente Frauen“ sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und treffen vor allem weder für die Heterogenität der Belegschaften noch für die Gruppe aller Männer oder aller Frauen zu.
Bei MSD wird der Wirkungsmechanismus kumulativer Belastungen als Risikofaktor nunmehr zunehmend erkannt. Untersuchungen zeigen z.B., dass ein verstärkender Zusammenhang zwischen physischen und psychosozialen Belastungen bestehen kann (Schmerzempfindlichkeit, Stresserleben).
Neue Risken am Arbeitsplatz – Wechselwirkungen mit z.B. psychosozialen Belastungen
Neue Risken wie Stress, Mobbing, Gewalt am Arbeitsplatz oder Mängel in der Arbeitsorganisation nehmen zu bzw. werden als solche nunmehr erkannt. Nach den Ergebnissen der 4. Erhebung der Arbeitsbedingungen der Dublin-Stiftung steigt die Arbeitsintensität weiter (12 %) und wird hauptsächlich bestimmt durch direkte Kundenvorgaben. Immer mehr Arbeitnehmer/innen berichten über hohes Arbeitstempo (60%) und Zeitdruck (62%), die Autonomie am Arbeitsplatz ist zwar relativ hoch, scheint aber zu sinken.
Auch hier wirkt die geschlechtsspezifische Segmentierung des Arbeitsmarkts: Einzelne neue Risken wie Mobbing am Arbeitsplatz betreffen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeiten oft häufiger Frauen als Männer, oder jene Beschäftigten, die weniger gut in die Betriebsabläufe integriert sind (z.B. Teilzeitkräfte – meist Frauen, Leasingpersonal, Personen mit Migrationshintergrund, anderem Religionsbekenntnis, Arbeitnehmer/innen die Rollenstereotypen nicht entsprechen): Mobbinghandlungen am Arbeitsplatz sind generell deutlich zunehmend (bullying, harrassment, physical violence). Rund 5 % geben an, im letzten Jahr bei ihrer Arbeit Gewalt, Mobbing oder Belästigungen ausgesetzt gewesen zu sein – hauptsächlich im Gesundheitswesen, Unterricht, öffentlichen Verkehr.
Wieweit derartige Risken am Arbeitsplatz MSD, z.B. durch biomechanische oder chemische Prozesse im Körper, verstärken oder beeinflussen, bedarf noch einer gründlicheren Erforschung. Relevant erscheint dabei vor allem der Zusammenhang psychosozialer Fragen und Erkrankungen des Bewegungsapparats sowie Risken durch neue Formen der Arbeitsorganisation. Einzelne Untersuchungen weisen z.B. darauf hin, dass psychosoziale Faktoren alleine für Frauen weniger bedeutsam sind, Männer hingegen geringe Arbeitsplatzzufriedenheit oder monotone Tätigkeiten ohne Lernchancen als Verstärkung psychischer Belastung erleben. Zusammenhänge sind auch zwischen Monotonie bei der Arbeit und Schulter-Nackenschmerzen belegt. Bei Männern ist häufiger Zeitdruck mit einem höheren Beschwerdeausmaß verbunden, bei Frauen fehlende Pauseneinhaltung. Würden psychosoziale Risikofaktoren am Arbeitsplatz vermieden könnten Rückenschmerz-Fälle deutlich gesenkt werden (vgl. Martina Molnar) .
Geschlechterspezifischen Aspekten ist im Zusammenhang mit „neuen Risken“ nach der Entschließung des Rates der EU zu einer neuen Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2007-2012 vom 19. Juni 2007 angemessen Rechnung zu tragen
Individuelle persönliche Faktoren - u.a. Geschlecht
Als für MSD relevante individuelle Faktoren arbeitsbedingter Belastungen gelten mangelnde Erfahrung, mangelnde Unterweisung, Alter, physische Abmessungen und Leistungsvermögen (Konstitution, Größe, Gewicht, Haltungskräfte), frühere Erkrankungen der Wirbelsäule, generell die Krankheitsvorgeschichte, Rauchen, Fettleibigkeit, Trainingsmangel oder als „neue Risken“ bezeichnete psychosoziale Faktoren.
Fallweise wird auch das Geschlecht als individueller Faktor genannt, was vorwiegend wegen der durch Arbeitsmarktsegregation bedingten, oft unterschiedlichen Tätigkeiten und damit verbundenen häufiger auftretenden Risken entweder für Männer oder für Frauen bedeutsam ist, weniger wegen der geringeren Kraft von Frauen in den oberen Extremitäten bedingt durch unterschiedliche Ausprägung der Muskelgruppen von Frauen und Männern. Individuelle Personenfaktoren wie Alter oder Geschlecht haben offenbar wenig Einfluss auf die Risikosituation auch z.B. bei psychosozialen Belastungen, vgl. Beitrag von M. Molnar . Bei Einhaltung der Arbeitgeberpflichten im Arbeitsschutz, z.B. zur Unterweisung, Gefahrenevaluierung, Rangordnung der Schutzmaßnahmen (Vorrang kollektiver, organisatorischer Maßnahmen) und Bereitstellung einer geeigneten Arbeitsschutzorganisation, erscheint die Zuschreibung von Geschlecht als Risikofaktor der individuellen Sphäre wenig adäquat.
Geschlechtsspezifisch relevant und damit auch am Arbeitsplatz wirksam sind ungleiche Beschäftigungsbedingungen (Teilzeitarbeit, irreguläre Arbeitsverhältnisse) und außerberufliche, gesellschaftlich bedingte Gesamtlebensumstände der Arbeitnehmer/innen, die traditionell für Frauen mehr Belastungen mit sich bringen als für Männer,
- z.B. nehmen geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede weiter zu (gender pay gap – rund die Hälfte der Frauen in den EU-25-Ländern sind dem unteren Drittel der Einkommensskala zuzurechnen);
- werden sowohl bezahlte als auch unbezahlte Arbeitszeiten berücksichtigt, haben teilzeitarbeitende Frauen eindeutig eine längere Wochenarbeitszeit als vollzeitarbeitende Männer (in den EU-27 bei Zusammenrechnung von Erst- und Zweitjob, Wegzeiten, zusätzlich unbezahlte Arbeitszeiten – 4. Europäische Umfrage über Arbeitsbedingungen)
Weil sich außerberufliche Risken und Lebensumstände vor allem aufgrund des Schutzes der Privatsphäre und der rechtlich besonders geschützten personenbezogenen Gesundheitsdaten einer Einbeziehung z.B. in die Gefahrenevaluierung am Arbeitsplatz entziehen, können individuelle Faktoren jedoch nur hinsichtlich arbeitsplatzrelevanter Aspekte berücksichtigt werden.
Berücksichtigung des Genderaspekts bei der Risikoanalyse von MSD
Eine geschlechtergerechte Evaluierung der Belastungen bei manueller Lastenhandhabung, repetitiven Hand-Arm-Bewegungen, Arbeiten unter Vibrationen und anderen das Muskel- und Skelett gefährdenden Tätigkeiten erfordert die Einbeziehung des Genderaspekts in allen Bereichen und Phasen der Evaluierung und bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen. Dazu gehören auch das Überdenken monokausaler Ursachenanalysen und die Einbeziehung kumulativer Risken, die Männer und Frauen unterschiedlich betreffen können. Präventivmaßnahmen sollen und dürfen dabei nicht aufgrund des Geschlechts diskriminieren, sondern müssen einen sowohl für Männer als auch für Frauen wirksamen Sicherheits- und Gesundheitsschutz gewährleisten.
Der traditionelle Präventionsansatz unterschätzt nach wie vor die arbeitsbedingten Gefahren für Frauen, aber auch für „rollenuntypische“ Männer. Ein geschlechterspezifisch differenzierter Ansatz im Arbeitsschutz, der auch Eigenschaftszuschreibungen hinterfragt, kann dazu beitragen, Sicherheit und Gesundheitsschutz für alle zu verbessern. Das gilt für Männer oder für Frauen besonders in „atypischen“ Berufen, trifft aber auch für die Gruppe der Frauen bzw. Gruppe der Männer untereinander zu, die ebenfalls nicht homogen sind. Besonders bei der Evaluierung ist diesen Genderaspekten Rechnung zu tragen. Die OSHA hat zur Unterstützung in der betrieblichen Praxis den Report „Gender issues in safety and health at work“ und die Fact Sheets Nr. 42 und 43 herausgegeben mit Beispielen zur Berücksichtigung des Genderaspekts vor allem bei Evaluierung u.a. auch von Belastungen des Muskel-Skelett-Apparats und mit Empfehlungen für Schutzmaßnahmen. Angeregt wird eine nach Geschlecht getrennten Datensammlung zur besseren Analysemöglichkeit .
Neben Einbeziehung zusätzlicher Belastungsfaktoren und Überdenken monokausaler Ursachenanalysen sind Verbesserungen der Arbeitsvorgänge und der Arbeitsorganisation unter Einbeziehung von Genderaspekten ebenso erforderlich wie eine ergonomische gendergerechte Gestaltung von Arbeitsmitteln, möglichst hohe Arbeitsautonomie und eine auch Genderfragen einbeziehende Information und Unterweisung der Arbeitnehmer/innen. Im Kontext besonders mit umfassenden ergonomischen Programmen, entsprechender betrieblicher Gesundheitsförderung und unter Beteiligung aller Unternehmensebenen kann ein geschlechtergerechter Sicherheits- und Gesundheitsschutz auch zur Prävention gegen Muskel-Skelett-Erkrankungen gefördert und bei entsprechender Umsetzung zur „win-win-Situation“ für alle Beteiligten werden.
Quellen:
- Agnès Parent-Thirion, Enrique Fernández Macías, John Hurley, Greet Vermeylen (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, Dublin): „Fourth European Working Conditions Survey (2007)
- Kaisa Kauppinen, Riitta Kumpulainen, Irene Houtman ua.; Sarah Copsey (European Agency for Safety and Health at Work): Musculoskeletal disorders; in: „Gender issues in safety and health at work – A review“; S. 40 ff (2003)
- Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - Fact Sheet Nr. 42 „Geschlechtsspezifische Fragen im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit - Zusammenfassung eines Berichts der Agentur“ (2003)
- European Agency for Safety and Health at Work - Fact Sheet Nr. 43 „Die Berücksichtigung des Geschlechteraspekts bei der Risikoanalyse“ (2003)
- Lena Karlqvist (Gender and Work, Nationalinstitut für das Arbeitsleben, Stockholm, Schweden): Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede; in: „Gemeinsam gegen Muskel-Skelett-Erkrankungen“, magazine 3, S. 16ff, Magazin der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (2001)
- Rip Op De Beeck, Verlee Hermans (European Agency for Safety and Health at Work): „work-related low back disorders“; insbesondere S. 5ff, 19, Risk Factors – S. 24ff (2000)
- Peter Buckle, Jason Devereux u.a. (European Agency for Safety and Health at Work): „work-related neck and upper limb – musculoskeletal disorders“; insbesondere S. 19ff, 39ff (1999)
Sowie Beiträge zur Europäischen Woche „Pack’s leichter an“:
- Martina Molnar: „Anspannung führt zu Verspannung – Aktuelle Forschungsergebnisse“, Elsbeth Huber – „Schwere Arbeit - leicht gemacht“
- Alexandra Marx – „Rechtliche Grundlagen zur Prävention von Muskel- und Skeletterkrankungen“